Auszug aus Kapitel 2
Donald nahm seine Hucke ab, stellte sie auf den Boden und rannte hinaus.
»Seanmhair«, schrie er aus Leibeskräften. Immer wieder »Seanmhair«. Doch er bekam keine Antwort. Donald lief immer tiefer in den Wald hinein. Nur noch einzelne Strahlen des Mondlichts drangen durch die Baumkronen.
Wenn er sie nicht bald fand, musste er umkehren und sie am Morgen bei Tageslicht suchen. Aber wohl war ihm nicht dabei. Eine alte, fast blinde, gebrechliche Frau ganz alleine in der Nacht mitten im Wald … Das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut!
Je weiter er lief, desto kopfloser wurde er.
Er musste sie unbedingt finden!
Erneut brüllte er ihren Namen, doch noch immer blieb eine Antwort aus. Wieder und wieder versuchte er es. Schließlich hielt er niedergeschlagen inne und ließ sich dabei auf einem der vom gestrigen Sturm umgestürzten Baumstämme nieder.
Es hatte keinen Sinn. Durch sein Gebrüll würde er höchstwahrscheinlich nur einen wilden Eber oder einen Wolf aufschrecken und das war weder für seine Seanmhair noch für ihn von Vorteil. Es blieb ihm demnach nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge wieder umzukehren.
Donald seufzte leise.
Dieser Tag war wirklich nicht einer seiner Besten.
Er wollte sich gerade wieder erheben und schweren Herzens auf den Rückweg machen, als er lautes Gekrächze über sich hörte. Obwohl er so gut wie nichts sehen konnte, wanderte sein Blick hinauf zu den Baumkronen.
War das schon wieder ein Rabe? Anscheinend wurde er heute von einem ganzen Schwarm dieser Vögel verfolgt.
»Du kommst mir gerade recht«, sprach er den Vogel an. »Wenn du wie dein Freund Hunger haben solltest, dann bin ich der Falsche, an den du dich wendest. Ich habe nichts dabei, was ich dir geben könnte. Such dir einen anderen. Ich habe im Moment nicht die Muße, mich mit dir zu befassen.«
»Habe ich gesagt, dass ich hungrig bin?« Donald schrak zusammen.
Woher kam diese Stimme? Sie war nicht unangenehm, auch nicht angsteinflößend, aber dennoch … Zu wem gehörte sie? Hatte der Rabe ihm gerade geantwortet? Das konnte nicht sein! Er musste sich das aufgrund seines Hungers und der Sorge um seine Seanmhair eingebildet haben. Sprechende Raben! Vermutlich verlor er gerade den Verstand.
»Aye, Donald!«, bestätigte er selbst seine Vermutung. »Als Dorfnarr hättest du wenigstens dein Auskommen, denn alle werden sich rührend um dich kümmern.« Als hätte der Rabe sein Gemurmel gehört, ertönte von oben ein lautes Gekrächze, das dann in ein kehliges Gelächter überging. Donald reckte seinen Hals, um etwas erkennen zu können, doch es war vergeblich.
»Ja, lach nur über mich! Wie heißt es so schön: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.«
»Für den Spott ist kein Schaden verantwortlich, sondern du selbst!« Kaum waren die Worte verklungen, hörte er direkt über seinem Kopf das Schlagen von Flügeln und sah den Raben, der erst eine Runde über ihm drehte, schließlich direkt vor seinen Füßen landete und ihn dann anstarrte. Donald sah ihn ebenfalls an.
»Was bist du nur für ein komisches Tier?«, murmelte er leise vor sich hin, mehr an sich selbst als an den Raben gerichtet. »Und was willst du von mir?«
»Was ich von dir will?« Donald rieb sich verblüfft die Augen.
Der Rabe sprach tatsächlich, und zwar mit ihm. Das musste ein Traum sein! Blieb nur noch die Frage, was für einer. Wahrscheinlich ein Albtraum!
»Wie du vorhin so schön gesagt hast«, fuhr der Rabe unterdessen unbeirrt fort, »sind Raben die Boten des Gevatters. Nur dieses Mal bin ich nicht nur ein Bote. Manchmal bin ich viel mehr.« Bei seinen Worten streckte der Rabe seine Flügel nach vorne und verbarg seinen Kopf darunter, dann begann er zu wachsen. Donald erschrak.
Was ging hier vor sich?
Auch das musste er sich einbilden. Das Tier wurde immer größer, dabei glättete sich sein Federkleid, sodass es mehr und mehr wie schwarzer, fließender, kostbarer Stoff aussah. Obwohl er sich immer wieder verzweifelt einzureden versuchte, dass dies nur ein Traum wäre, bekam es Donald nun wirklich mit der Angst zu tun. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust und seine Hände zitterten genauso wie seine Beine dermaßen, dass er sich kaum noch auf dem Baumstamm halten konnte. Verzweifelt schloss er die Augen.
Wenn er sie nun wieder öffnete, würde er dann erwachen?
Doch er erwachte nicht. Auch als er seine Augen erneut öffnete, befand sich das unheimliche Tier, das nun langsam die Gestalt eines Menschen annahm, noch immer direkt vor ihm.
Donald war zu keiner Reaktion mehr fähig. Er starrte wie gebannt auf die Gestalt, die sich jetzt vor ihm auftürmte. Er war kurz davor, vor lauter Angst die Besinnung zu verlieren, da hob der Fremde seinen Kopf. Ebenmäßige, bleiche Gesichtszüge wurden von kohlrabenschwarzem Haar umrahmt, das ihm bis auf die Brust reichte. Seine Augen leuchteten wie kleine Glühwürmchen, doch das Erstaunlichste war, dass er ihn anlächelte. Nicht diabolisch angrinste, wie Donald es eigentlich erwartet hätte, sondern der Fremde lächelte auf eine Art und Weise, wie nur ein Vater oder eine Mutter das eigene Kind anlächeln würden. Merkwürdigerweise beruhigte er sich dadurch ein wenig.