1. Blick ins Buch

Prolog

Die Sonne versank langsam im Loch Moigh. Ihre Strahlen tauchten die kleine Insel, die inmitten des Lochs lag und auf der einst eine stattliche Burg stand, in ihr Licht, so als wollten sie an die einstige Pracht erinnern. Nicht weil sie so monumental gewesen war, dass man allein an ihrer Größe den Reichtum ihres Erbauers hatte erkennen können, sondern weil Angus MackIntosh, der damalige Chief des Clans, sie vor geradezu malerischer Kulisse erbauen ließ. Jetzt allerdings erinnerten nicht mehr als eine verfallene Ringmauer und kaum zu erkennende Teile einer Wohnanlage an ihre einstmals ruhmreichen Zeiten. Auf jeden Fall war das Fleckchen Erde auch ohne eine große Ruine einen Ausflug wert.

Donald MackIntosh folgte dem kleinen Pfad hinunter an den See und spähte in alle Richtungen. Etwa eine viertel Meile von seinem Standort entfernt, konnte er einen parkenden Van erkennen. Mehrere kleine Zelte und ein Feuer deuteten darauf hin, dass seine Insassen dort kampierten. Donald seufzte leise, dann machte er sich auf den Weg dorthin. Beim Näherkommen erkannte er vier junge Männer, die am Feuer saßen. Als sie ihn kommen sahen, stand einer von ihnen auf und kam auf ihn zu.
»Feasgar math«, begrüßte er den jungen Mann, der ihn nur verwirrt ansah. »Guten Abend«, wiederholte er seine Begrüßung deshalb auf Englisch. »Ihr kommt nicht von hier?« Der Junge schüttelte seinen Kopf.
»Guten Abend«, erwiderte er ihm. »Nein, wir sind Austauschstudenten. Wir studieren in Glasgow. Wir haben gerade Semesterferien und wollten uns die Highlands einmal etwas genauer ansehen, deshalb haben wir den Van gemietet und sind einfach los. Haben wir etwas falsch gemacht? Dürfen wir hier nicht campen?« Donald winkte ab.
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Hier in den Highlands darf man campen und ihr habt euch wahrlich einen wunderschönen Platz dafür ausgesucht.« Der Junge grinste ihn breit an.
»Das haben wir uns auch gedacht. Campen Sie auch in der Gegend oder kommen Sie aus dem kleinen Dorf, durch das wir gefahren sind?«
»Weder noch.«
»Aber Sie kennen sich hier in der Gegend aus?«
»Aye.«
»Haben Sie vielleicht ein wenig Zeit. Wir würden gerne mehr erfahren. Ich weiß, dass bald jeder Fleck hier, seine eigene Geschichte hat und …« Donald grinste ihn breit an.
»Das stimmt! Und dieser Fleck hier hat eine ganz Besondere.« Der Junge sah ihn fragend an.
»Wenn ich mich nicht täusche, dann können Sie sie bestimmt auch erzählen.« Donald nickte. »Was halten Sie davon, sich zu uns zu setzten. Wir haben auch kaltes Bier dabei.«
»Sehr gerne! Da sage ich nicht nein.«
»Ach, im Übrigen, mein Name ist Frank Burton. Ich komme aus Oklahoma City und das dort am Feuer sind John Morgan aus Sydney, Jan Weidmann aus Düsseldorf und Pierre de la Rousse aus Paris.« Donald nickte den drei jungen Männern zu, dann folgte er Frank. Der junge Mann, ließ sich neben seinen Freunden am Feuer nieder, deutete auf einen freien Platz, zog eine Flasche »Belhaven« aus einer Kühlbox, öffnete sie und reichte sie anschließend Donald.
»Ich weiß, Bier ist nichts gegen den guten alten, schottischen Whisky, aber unser Budget gibt den leider nicht her.«
»Ein gutes schottisches Ale tut es auch. Es gab Zeiten, da war unser Ale so etwas wie ein Grundnahrungsmittel.«
»Davon habe ich auch schon gehört«, entgegnete Frank ihm.
»In früheren Zeiten, besonders während der Pest, war Wasser nicht immer genießbar. Damals wusste man auch nicht, dass es völlig ausreichen würde, es abzukochen, um die Keime abzutöten. Bier erwies sich da als vortreffliche Alternative. Die Maische wird ja gekocht und der Alkohol, der entsteht, erledigt den Rest. Jedenfalls wurden durch Bier in der Regel keine Keime weitergegeben.« Einer der jungen Männer, Jan, der Deutsche, nickte.
»Das kenne ich. Bei uns stand jedem Kumpel Untertage auch ein Kasten Bier zu. Bier war nahrhaft und sorgte so für genügend Kalorien, um die harte Arbeit in den Stollen zu erledigen. Außerdem schmeckt es viel besser als ein Kanten Brot.« Donald nickte ebenfalls.
»Na denn! Slainte!« Die Männer prosteten sich zu und gönnten sich einen Schluck aus den Flaschen, dann schwiegen sie eine Weile. Donald beobachtete unterdessen die Sonne, die sich inzwischen nur noch als rötlicher Streifen am Horizont zeigte. Es war immer wieder faszinierend, das allabendliche Farbenspiel zu beobachten. Selbst noch nach so vielen Jahren.

»Das hier ist doch Loch Moigh?«, unterbrach der Franzose, was man unschwer an dessen Akzent erkennen konnte, seinen Gedankengang.
»Aye! Auf der Insel, inmitten des Sees stand einmal Burg Moigh, die allerdings inzwischen so gut wie vollständig zerstört ist. Seht ihr den Obelisken dort?« Donald deutete mit dem Zeigefinger auf das 70 Fuß hohe Monument. »Margaret MackIntosh hat ihn 1824 zu Ehren ihres Mannes Aeneas errichten lassen. Auf seinem Sockel befindet sich auch eine Inschrift. Ungefähr an dieser Stelle hat sich einer der Türme der Burg befunden.«
»Wann wurde sie aufgegeben.«
»Im 17. Jahrhundert wurde ein Haus am nördlichen Ende des Lochs erbaut, in das der Chief umgesiedelt ist. Vielleicht ist euch das Herrenhaus ja aufgefallen, als ihr hierher gefahren seid. Zu schade, dass das ursprüngliche Haus bei einem Brand zerstört wurde und auch »Moigh Hall« abgerissen werden musste, denn der Neubau ist nicht im Geringsten mit den beiden vorherigen Versionen zu vergleichen. Kennt ihr übrigens die Geschichte, die über »Moigh Hall« erzählt wird?« Die vier jungen Männer schüttelten ihre Köpfe.
»Dann wird es Zeit, dass jemand sie euch erzählt. Zu der Zeit des zweiten Jakobitenaufstandes, ihr wisst schon der, bei dem Charles Edward Stuart auch »Bonnie Prinz Charlie« genannt, den Aufstand gegen die Engländer, der in Culloden endete, angeführt hat, lebte Lady Anne MackIntosh auf dem Anwesen. Ihr Mann kämpfte für die Regierungstruppen. Die Lady allerdings stand voll und ganz hinter der jakobitischen Sache, deren Anhänger endlich wieder einen schottischen König aus dem Hause Stuart auf den Thron setzen wollten. Ich weiß nicht, ob ihr es wisst, aber Königin Anne war die letzte Stuart, die Schottland regiert hat. Sie hatte nachdem ihr Vater Jakob II. vom englischen Thron vertrieben worden war, zusammen mit ihrem Mann Wilhelm von Oranien die Krone beider Königreiche übernommen. Als ihr Mann starb, trat sie die Regentschaft alleine an. Doch die Schotten trauerten ihrem König Jakob immer noch nach. Schon während der Herrschaft Wilhelms kam es zum ersten Jakobitenaufstand, auf den dann einige Jahre später der zweite folgte. Aber ich wollte euch ja nicht mit einem Exkurs in schottischer Geschichtsschreibung langweilen, sondern euch die Geschichte von Lady Anne MackIntosh von Moigh Hall erzählen. Wie schon gesagt, ihr Mann kämpfte auf Seiten der Regierungstruppen, während seine Gattin die Jakobiten unterstützte. Und wie es so schön heißt: Ist der Mann aus dem Haus, tanzen die Weiber auf den Tischen. Sie hatte nichts Besseres zu tun, als den »Schönen Prinz Charlie« bei sich einzuquartieren. Indessen bekamen die in Inverness stationierten Soldaten unter der Leitung von Lord Loudens Wind von der Sache. Dieser marschierte auch umgehend los. Doch sie hatten die Rechnung ohne unsere gute Lady gemacht, denn Annes Spione waren natürlich ebenfalls nicht untätig. Als sie von dem Vormarsch der Regierungstruppen, die Stuart gefangen nehmen wollten, hörte, befahl sie vieren ihrer Männer, sich mit geladenen Pistolen im Unterholz rund um das Herrenhaus zu verteilen. Kaum waren Louden und seine Männer in Sicht, zündeten diese nacheinander ihre Pistolen und schrien dabei, dass die MacDonalds und Camerons, die es tatsächlich gar nicht gab, den Marsch auf Loudens Truppen beginnen sollten, um anzugreifen. Louden dachte, er würde in die Falle der gesamten jakobitischen Armee laufen und nahm mit seinen Männern Reißaus. So rettete die Lady den schönen Prinzen. Einfach, aber genial! Das Ereignis ist im Übrigen unter dem Namen »Rout of Moigh« in die Geschichte eingegangen.«
»Frauen der Geschichte werden oft verkannt. Zum Glück ändert sich das langsam«, entgegnete ihm der vierte im Bunde, der bisher geschwiegen hatte.
»Da kann ich dir nur zustimmen. Hinter sehr vielen großen Männern standen Frauen, ohne deren Hilfe sie niemals zu Ruhm gekommen wären.«
»Es hört sich fast so an, als wüssten Sie genau, wovon Sie reden. Gibt es in Ihrem Leben auch eine Frau, die im Hintergrund die Fäden zieht?«
»Sollte ich nicht ursprünglich mitkommen, um euch die Geschichten, die rund um die MackIntoshs und Loch Moigh grassieren, zu erzählen? Ich denke, etwaige Frauen, die in meinem Leben von Bedeutung waren, sind dafür nicht von Belang.«
»Gibt es denn noch mehr Geschichten?« Donald grinste die jungen Männer breit an.
»Aye! Eine davon ist so unglaublich, dass man sie fast für ein Märchen halten könnte. Wenn ich noch eine Flasche eures guten »Belhaven« bekomme, wäre ich bereit, sie euch zu erzählen.« Er leerte seine Flasche in einem Zug und reichte sie Frank. Der junge Mann nahm sie entgegen, grinste nun ebenfalls breit und zog eine Neue aus der Kühlbox heraus.
»Wenn’s weiter nichts ist«, entgegnete dieser ihm, während er die neue Flasche öffnete und sie Donald gab. »Die Kühlbox ist voll und die Nacht noch jung. Dann schießen Sie mal los. Wir alle sind wirklich sehr gespannt.«
»Nun gut. Bevor ich allerdings richtig beginne, möchte ich euch noch eine Frage stellen. Wisst ihr, was eine Hucke ist?«
»Hucke?« Die vier jungen Männer sahen ihn fragend an. Donald brach in leises Gelächter aus.
»Ich sehe schon, dass der Begriff bei euch jungen Leuten nicht wirklich bekannt ist, aber den Ausdruck »Jemand bekommt die Hucke voll«, habt ihr mit Sicherheit schon einmal gehört.« Jetzt nickten die Jungen.
»Der Begriff »Hucke« stammt aus einer Zeit, da wurden Gegenstände noch in riesigen Weidenkörben auf dem Rücken getragen. Sie waren sozusagen eine altertümliche Version eines Rucksacks. Wenn jemand »die Hucke vollbekommen« hat, dann hatte er meist eine schwere Last zu tragen. Einerseits bedeutete dies, dass zumindest für einen Tag das Auskommen wieder gesichert war, doch tagtäglich die schwere Last wie ein Maulesel zu tragen, machte aus jungen Männern schnell Alte. Wenn ihr versteht, was ich meine. Die Geschichte, die ich euch erzählen will, handelt von einem eben solchen Mann, der sein Schicksal nicht als das seine annehmen wollte. Um es ein wenig einfacher zu machen, nennen wir ihn Donald. Donald mit der Hucke …«

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