2. Blick ins Buch
Ausschnitt aus Kapitel 2
Schließlich erreichten sie den Teil des Friedhofs, der für Megan und Liù am interessantesten war, denn dass dort angeblich der Poltergeist des alten MacKenzie herumspuken sollte, war bereits mehrfach durch die Presse gegangen. Jeder, der sich mit dem Friedhof befasste, stieß unweigerlich auf seine Geschichte. Jetzt war vor allem Megan gespannt, wie ihr Fremdenführer sie vor den Touristen ausschlachten würde.
Es dämmerte bereits, als sie das Convenanters Monument erreichten.
»Kommen wir nun zum blutigsten Teil dieses Friedhofs«, war nun wieder Peters Stimme zu vernehmen. »Wer von Ihnen weiß, wer die Convenanters waren?«
Einige Touristen sahen sich fragend an.
»Das habe ich mir gedacht. Die meisten Touristen, die sich diesen Friedhof ansehen, kommen hauptsächlich hierher, um die Gräber, die Vorbild für ihre Lieblingsfiguren aus den Romanen waren, zu fotografieren. Die wenigsten wissen aber von der mehr als blutigen Geschichte dieses Friedhofs. Im Jahr 1677 ernannte König Charles II. George MacKenzie zu seinem Lord Advocaten. Er wurde damit beauftragt, die Verfolgung der presbyterianischen Covenanters, wie man die damaligen Anhänger der Church of Scotland nannte, aufzunehmen.
Viele weigerten sich, ihrem Glauben abzuschwören, deshalb verfolgte man sie. Nach der Schlacht an der Bothwell-Brücke wurden über 1000 Männer in diesem Bereich des Greyfriars Kirkyard gefangen gehalten, wo Hunderte an Krankheiten, Unterernährung und Folter starben. Andere wurden hingerichtet.
Es war eines der schwärzesten Kapitel Edinburghs. Die Convenanters wurden in diesem Teil des Friedhofs, der zu dieser Zeit noch außerhalb lag, wie Vieh eingepfercht.
Sehen sie die Mauern dort? Das Arsenal war geradezu prädestiniert dafür. Zwei dieser Mauern, die sogenannten Floddenmauern waren Teil der damaligen Stadtmauern. Die dritte gehört zur heutigen George Hariot`s School, die 1628 ursprünglich als George Hariot`s Hospital vom Vermächtnis des damaligen königlichen Goldschmieds gegründet wurde. Die vierte und offene Seite des Geländes war dem Friedhof zugewandt und durch einen Lattenzaun, der von Wachen leicht zu bewachen war, vom eigentlichen Friedhof getrennt. Dieses Areal wurde als Convenanters Prison bekannt. Wenn man es genau nimmt, war dieses Freiluftgefängnis das erste inoffizielle Konzentrationslager der Geschichte.« Einige der anwesenden Personen sahen angeekelt auf den inzwischen mit einer Gittertür versperrten Abschnitt.
»Ich dachte immer, sie wären eine deutsche Erfindung«, bemerkte der Vater des Teenagers.
»Nein, derartige Lager gab es auch schon früher. Die Deutschen haben den Bau damals nur perfektioniert.«
»Und deren Geister gehen alle hier um?«, hakte der Deutsche noch einmal nach.
»Ja, aber heute ist es erstaunlich ruhig. Vielleicht sollte ich noch ein wenig weitererzählen. Ab dem Jahr 1690 wurde der Convananters Prison von der Stadt Bedlam bebaut und ein Streifen des ursprünglichen Geländes, als weiteres Gräberfeld genutzt. Zu dieser Zeit war es üblich die Gräber als Gewölbegräber anzulegen, deshalb haben die meisten dort auch diese Form. Normalerweise ist der Zugang zu diesem Bereich gesperrt, um dem Vandalismus vorzubeugen, aber da dort auch das Grab von William McGonagall liegt, würde ich heute eine Ausnahme machen. Wer also noch Lust hat …«
Peter zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn demonstrativ vor der Gruppe rasseln, dabei sah er sich fragend um. Selbst bei diesem relativ leisen Geräusch zuckten einige ängstlich zusammen. Da es bereits ziemlich dunkel war, schien auch niemand der Anwesenden einen Abstecher in den von ihm erwähnten Teil des Friedhofs machen zu wollen. Vielleicht hatten alle aufgrund der Geschichte, die er über die dort zu Tode gekommenen Convenanters erzählt hatte, Hemmungen, den Bereich in der Dunkelheit zu betreten. Man konnte ja nie wissen, ob nicht eine ganze Horde ihrer wütenden Geister dort auf unschuldige Besucher lauerte, um sie zu Tode zu erschrecken, mutmaßte Megan, als sie in die schockierten Gesichter der Touristen sah.
»Ich denke, Peter hat die Touris ganz schön eingeschüchtert. Hast du ihre Gesichter gesehen?«, flüsterte sie daraufhin Liú ins Ohr. Ihre Freundin brach in leises Gekicher aus.
»Ich hätte sie filmen sollen. Das erinnert mich an Mums Gruselabende, so haben ihre Gäste auch immer reagiert. Ich denke, wenn jetzt ein Hase oder ein Eichhörnchen um die Ecke gekommen wäre, dann wären einige der Damen in Ohnmacht gefallen.« Megan nickte grinsend.
»Ein Donner wäre genauso gut gewesen. Und wir sind noch nicht einmal am gruseligsten Punkt angekommen.« Megan deutete mit dem Kopf auf das MacKenzie Mausoleum. »Bin gespannt, wie sie reagieren, wenn sie seine Geschichte hören.«
»Ich freue mich jetzt schon darauf«, gab Liú ihr zurück. Dann wandten sich die beiden Frauen wieder dem Guide zu.
»Wenn keiner mehr will, sollten wir uns jetzt dem berüchtigsten Bewohner des Friedhofs widmen«, fuhr Peter schließlich fort.
»Ich habe Sie ja bereits auf das Mausoleum von George MacKenzie hingewiesen. Durch seine Grausamkeit gegenüber den Covenanters erwarb sich George den Spitznamen the »Bloody« MacKenzie. In dem großen dunklen Kuppelmausoleum, das sie dort sehen, wurde er 1691 begraben. Dass sein Mausoleum hier errichtet wurde, ist kein Zufall. MacKenzie hat ausdrücklich darum gebeten, in der Nähe des Convenanters Prison begraben zu werden, da er mächtig stolz auf das, was er getan hatte, gewesen war.
MacKenzie hat sich aber nicht nur einen Namen bei der Verfolgung der Convenanters gemacht, er war auch schon Richter bei den Hexenprozessen, die hier Anfang des 17. Jahrhunderts stattgefunden haben. Ich weiß nicht, ob sie es wissen, aber hier in Schottland nahm die Hexenverfolgung geradezu biblische Ausmaße an. Ihnen ist mit Sicherheit Salem ein Begriff. Während dort 200 Hexen verbrannt wurden, starben hier in Schottland in den Jahren 1661-62 zwischen 4000 und 6000 Menschen, vorwiegend Frauen, auf dem Scheiterhaufen. Über die genauen Zahlen streiten sich die Gelehrten allerdings noch immer.« Ein Raunen ging durch die Menge. Einige schienen sichtlich schockiert zu sein.
»Wer sich ein wenig mehr dafür interessiert, sollte eine unserer Führungen zu diesem Thema besuchen. Da erhalten Sie noch viel mehr Informationen und auch einen Überblick über die Orte, die damit in Zusammenhang stehen«, fuhr Peter dessen ungeachtet einfach fort.
»Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, beim MacKenzie Mausoleum. Bereits in früheren Zeiten gab es Berichte darüber gab, dass MacKenzie als Geist aktiv war, allerdings mehrten sich diese am Ende des letzten Jahrtausends, als ein Obdachloser sich Ende der 1990er-Jahre in das Mausoleum schlich, um dort eine Nacht zu verbringen. Das hat anscheinend den Geist des Advokaten aufgeschreckt, denn …«
Peter senkte seine Stimme.
»… seitdem geht er hier vermehrt um. Noch schlimmer wurde es, als im Jahr 2003 zwei Teenager durch einen Lüftungsschlitz in das Grabmal eindrangen und seinen Schädel stahlen, mit dem sie anschließend hier auf dem Friedhof Fußball spielten. Zum Glück wurden sie bei einer der Führungen entdeckt und der Schädel wurde wieder zurück an seinen ursprünglichen Ort gelegt. Danach allerdings mehrten sich zahlreiche nicht erklärbare Ereignisse. So klagten Besucher plötzlich über nicht erklärbare blaue Flecken, Bisswunden und ähnliche Dinge. Einige verloren sogar auf unerklärliche Weise das Bewusstsein. Nachdem sich mehr als 350 Besucher auf diese Weise beschwert hatten, wurde ein Exorzist zu Hilfe gerufen. Colin Grant, sein Name, sollte sich um den außer Kontrolle geratenen Geist kümmern, doch selbst für ihn war MacKenzies Geist zu mächtig. Er starb 14 Tage nach seinem versuchten Exorzismus. Seitdem ist das Grab allerdings verschlossen. Wer dennoch einen Blick riskieren möchte: In der Tür befindet sich ein Gitter, durch das man darauf blicken kann.« Peter sah die Anwesenden erwartungsvoll an.
Da es inzwischen vollständig dunkel und mittlerweile ein eisiger Wind aufgezogen war, schien sich keiner so richtig zu trauen. Keiner außer Megan und Liú, die nur auf diesen Moment gewartet hatten. Liú war die Erste, die ihr Handy zückte, die Taschenlampe anschaltete, sich vor die Tür stellte und durch das Gitter spähte.
»Na ja«, bemerkte sie grinsend, als sie für Megan Platz machte. »Ich hätte mehr erwartet.« Megan zückte nun ebenfalls ihr Handy und stellte sich vor das kleine vergitterte Guckloch. Viel mehr als die Wand und eine ebenfalls mit einem Gitter verschlossene Treppe, die zum Sarggelege herunter führte, konnte sie allerdings nicht erkennen. Irgendwie war es enttäuschend und dennoch spürte sie, wie sich ihr Körper bei dem Anblick mit einer Gänsehaut überzog. Zudem begann die Hand, mit der sie das Handy hielt, zu zittern.
Was war nur mit ihr los?
Sie wollte sich gerade abwenden, als etwas Merkwürdiges geschah. In das Raunen des Windes mischte sich noch etwas anderes. War das eine Stimme? Megan schüttelte unbewusst ihren Kopf, um den absurden Gedanken zu vertreiben, doch genau in diesem Moment hörte sie das eigenartige Geräusch ein weiteres Mal. Gleichzeitig sah sie, wie eine Art weißer Dunst vom Sarggelege die Stiege hinauf durch das darauf liegende Gitter langsam in den oberen Raum stieg. Was war das? Megan vergaß für einen Augenblick zu atmen. Obwohl ihr der Anblick der weißen Masse, die nun immer höher stieg und dichter wurde, einen gehörigen Schreck einjagte, war sie nicht in der Lage, ihren Blick davon abzuwenden, geschweige denn sich zu bewegen. Es war erschreckend und faszinierend zugleich. War das der berüchtigte Geist?
Die weiße Masse wurde nun immer dichter und nahm allmählich die Konturen eines Menschen an. Eines ziemlich wütenden Menschen, der sich nun Stück für Stück auf die Tür, vor der Megan noch immer regungslos stand, zubewegte. Panik ergriff sie, die dazu führte, dass sie nichts mehr um sich herum wahrnahm. Sie starrte nur noch auf den Geist. Sie war nicht mehr fähig, sich zu bewegen, zu denken oder zu atmen. Es war, als wäre sämtliches Leben aus ihrem Körper entwichen.
»Du«, hörte sie plötzlich eine wütende männliche Stimme raunen. »Du gehörst hier nicht hin. Wie kannst du es wagen … War ich beim letzten Mal nicht deutlich genug? Niemand entgeht meinem Zorn. Du allein trägst die Schuld an meinem Elend. Du allein weißt, dass … Ich habe dich einmal vernichtet und werde es wieder tun. Kehre dorthin zurück, woher du gekommen bist, nämlich in die Hölle.«
Kaum waren die Worte verklungen, sah Megan zu ihrem Schreck, wie der Geist seine weißen, wie dichter Nebel anmutenden Hände durch die kleinen Gitter in der Tür schob, mit ihnen ihren Hals umfasste und dann zudrückte. Sie spürte zwar deren eisigen Griff und ihr Verstand sagte ihr auch, dass sie sich endlich in Bewegung setzen musste, wenn sie Schlimmeres verhindern wollte, aber ihr Körper gehorchte ihr noch immer nicht. So als würde dieser nur darauf warten, dass ihre Seele ihn endlich verließ.
Das grimmige Gesicht des Geistes war ihr nun so nahe, dass sie seine Züge deutlich erkennen konnte, doch bewusst nahm sie es nicht mehr wahr. Sie fühlte nur noch, wie ihr langsam schwarz vor Augen wurde und die Tür, die sich noch zwischen ihnen befand, verschwamm. Dann jedoch hörte sie erneut eine Stimme. Nicht die, die schon einmal zu ihr durchgedrungen war. Sondern eine andere, die allerdings ebenso wütend klang.
»Wie kannst du es wagen … Hast du nicht bereits genug Unheil angerichtet? Diesmal wird es dir nicht gelingen.« Gleichzeitig erschien ein weiterer Schemen, der sich seitlich gegen den Geist warf. Da ihr Peiniger anscheinend nicht damit gerechnet hatte, ließ dieser sie abrupt los. Megan geriet ins Straucheln und schaffte es aber gerade noch, sich abzufangen, ohne den Blick dabei von der Szene, die sie förmlich hypnotisierte und die sich im Innern des Mausoleums abspielte, abzuwenden.
Während sie gierig die Luft einsog und ein paarmal tief durchatmete, wurde ihre Sicht wieder klarer. Daraufhin konnte sie erkennen, dass der wütende Geist inzwischen auf dem Boden lag. Auf ihm kniete ein weiterer, der nun langsam seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Zwei blaue Augen, die wie funkelnde Sterne in dem Nebel aufblitzen, starrten sie verblüfft an. Auch Megan starrte ihn an. Wie lange, wusste sie nicht. Schließlich aber hörte sie die zweite Stimme erneut.
»Lauf …«, flehte sie diese an. »Wenn dir dein Leben lieb ist, dann lauf!« Erst jetzt war Megan wieder in der Lage, sich zu bewegen. Ohne auch nur darüber nachzudenken, warum sie es tat, folgte sie instinktiv dem Befehl der Stimme. Obwohl ihre Knie vor Angst zitterten und sie kaum in der Lage war, sich auf ihren Beinen zu halten, löste sie sich von der Tür, machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. Sie achtete weder auf die irritierten Blicke der Touristen noch auf Liùs Schreie, die ihr folgten, sondern rannte, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her quer über den Friedhof zurück zum Eingang. Erst als sie das Tor hinter sich gelassen hatte, hielt sie völlig außer Atem inne.
Das, was sie gerade erlebt hatte, war bei Weitem das schrecklichste Erlebnis ihres bisherigen Lebens. Es war ihr, als könnte sie noch immer die eisigen Hände auf ihrem Hals spüren. Könnte fühlen, wie sie langsam zudrückten. Wäre dieser andere Geist nicht urplötzlich einfach aufgetaucht, dann … Verdammt! Er hat ihr das Leben gerettet. Als ihr das bewusst wurde, wurde ihr erneut schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein.