1. Blick ins Buch
Auszug aus dem Prolog
Der Schnee tanzte in dicke Flocken zur Erde. Der Wind war eisig und wehte in Böen, sodass die dicke Schneeschicht, die sich auf den Zweigen der Bäume in den letzten Tagen gebildet hatte, wie Schlamm von ihnen herunterstürzte. Es war absolut kein Wetter, um in einen Wald zu gehen, aber Colin war so wütend, dass er kaum etwas davon bemerkte.
Wie hatte sein Vater es nur wagen können, ihn nach Hause zu schicken? Ihn … gerade ihn? In Bezug auf seine beiden älteren Brüder hatte er sich noch nicht einmal die Frage gestellt, ob sie mit in den Kampf zogen. Bei ihm allerdings …
Verdammt, er war kein Knabe mehr und wollte auch nicht mehr als solcher behandelt werden.
Colin stapfte missmutig weiter durch den Schnee, immer tiefer in den Wald hinein.
Was hatte sich sein Vater nur dabei gedacht? Er war ein Piobaire, kein Kämpfer an vorderster Front, obwohl er im Umgang mit dem Schwert seinen Brüdern in nichts nachstand. Er konnte sich durchaus verteidigen, wenn es hart auf hart kam. Doch anscheinend sah sein Vater das völlig anders.
Was befürchtete dieser? Dass sich die Rotröcke direkt auf die am Schlachtfeldrand stehenden Piobaires stürzen würden und Colin somit einer der ersten wäre, die für ihren König ihr Leben ließen?
Aye, er war noch nicht so kampferprobt wie seine Brüder, aber Haimish, sein ältester war bei seiner ersten Schlacht in Killiecrankie erst 17 Jahre alt und sein zweiter Bruder Robert gerade einmal halb so alt wie er jetzt gewesen. War es seine Schuld, dass er zur Zeit der großen Schlachten kaum den Windeln entwachsen gewesen war?
Dennoch hatte sein Vater darauf bestanden, dass Colin sich aus dem Kampfgetümmel heraushielt und zu seiner Mutter zurückkehrte. Was war er? Der Hüter seiner Mutter?
Colin kam sich wie ein getretener Hund vor. Hatte nicht sein Vater stets gepredigt, dass die MacRaes ein kriegerischer Clan wären, der niemals einer Auseinandersetzung aus dem Weg ging und in dem es keinen Platz für Feiglinge gab? Aber genau das verlangte er nun von ihm. Er sollte sich wie ein gemeiner Feigling heimlich davonstehlen. Wie sollte er auf diese Weise jemals zu einem vollwertigen Mitglied des Clans werden, wenn selbst sein Vater ihm so wenig zutraute.
Aye, in seiner Kindheit war er schwächlich gewesen, was ihm oftmals den Spott seiner Altersgenossen eingebracht hatte, aber seitdem war so viel Wasser in den Loch Dubhthaich geflossen, dass man ganz Alba in diesen Fluten versenken könnte.
Aufgrund seiner kränklichen Konstitution und seines zu jener Zeit kleinen Wuchses hatten seine Eltern ihn mit ihrer Fürsorge geradezu überschüttet. Mehr noch, seine Mutter hatte ihn in seiner Kindheit buchstäblich wie ein rohes Ei behandelt. Als er schließlich in das Alter gekommen war, in dem man den Umgang mit Waffen lernte, hatte er nur dabei zusehen können, wie seine Altersgenossen zu Kriegern wurden. Nach und nach hatten sie mehr Ansehen im Clan genossen, doch er war weiterhin in den Augen aller der schwächliche Knabe geblieben. Das hatte nicht nur einmal dazu geführt, dass er einen Wutausbruch bekommen hatte. Aye, zu dieser Zeit war er unzufrieden, mutlos und vor allen Dingen neidisch auf alles und jeden gewesen. Erst als es seinem Vater zu viel geworden war und dieser ihn gegen den Willen seiner Mutter in Angus Obhut gegeben hatte, war endlich Ruhe eingekehrt.
Angus war einer der bedeutendsten Piobaires ihres Clans und zudem ein guter Schwertkämpfer. Er hatte ihn nicht mit Samthandschuhen angepackt, sondern mehr von ihm abverlangt als jeder andere zuvor. So war er im Laufe der Jahre nicht nur zu einem guten Piobaire geworden, sondern konnte inzwischen durchaus auch im Schwertkampf mit jedem anderen männlichen Clanmitglied mithalten. Zudem war im Laufe von Angus Training aus dem schwächlichen Jungen ein hochgewachsener, starker Mann geworden, der noch dazu nicht gerade unansehnlich war. Mittlerweile war es sogar so, dass er im Hinblick auf seine Wirkung bei Frauen den Neid der anderen auf sich zog, selbst den seiner Brüder. Doch was nutzte es ihm? Solange sein Vater in ihm noch immer den schwächlichen Jungen von damals sah, würde er niemals zu einem geachteten Mitglied im Clan der MacRaes werden.
Die englischen Truppen waren in Sheriffmuir schon in Sichtweite gewesen. Verdammt! Das wäre seine Gelegenheit gewesen, sich endlich vor den anderen zu beweisen, aber …
Colin knurrte leise und zog dabei sein Schwert aus der Scheide. Er brauchte dringend etwas, um daran seine Wut auszulassen, bevor er an ihr erstickte.
In seiner unmittelbaren Nähe befand sich eine Baumgruppe mit drei dicken alten Eichen, deren Zweige sich ächzend unter der Last des feuchten Schnees bogen. Immer wieder fielen große Schneeschollen herab, die auf seiner Kleidung oder sogar auf seinem Kopf landeten, so als wollten die Bäume ihn ebenfalls aus ihrer Nähe vertreiben. War er so unfähig, dass selbst die Natur nichts mit ihm zu schaffen haben wollte?
Jeder Brocken Schnee, der auf ihm landete, fühlte sich wie eine schallende Ohrfeige an. Das machte ihn noch wütender.
Colin trat näher an die Bäume heran. Wenn selbst sie ihn verspotten wollten, dann hatten sie es nicht besser verdient. Rasend vor Zorn hob er sein Schwert und schlug mit der Klinge wie mit einer Axt auf den Stamm einer der Eichen ein. Durch die Erschütterung, die seine Hiebe verursachten, fiel nur noch mehr Schnee auf ihn hinab, was ihn immer wütender machte. Schließlich war er wie von Sinnen. Einem Schlag folgte der nächste, so dass sich bereits eine tiefe Kerbe in dem Stamm bildete.
»Haltet ein!«
Durch sein vor Wut verzerrtes Gehör nahm er die Stimme kaum wahr, dennoch hielt er für einen Moment inne.
Eine Stimme mitten im Wald, noch dazu bei diesem Wetter, das konnte nur seiner Einbildung entspringen. Niemand außer ihm selbst würde sich bei diesem Wetter in den Wald wagen. Instinktiv sah er sich um, doch da war niemand. Er hatte demnach recht, die Stimme war nur ein Produkt seiner Fantasie.