2. Blick ins Buch
Auszug aus Kapitel 2
Ihr Weg führte sie an dem kleinen Antiquitätenladen vorbei, vor dessen Schaufenster sie schon in ihrer Kindheit stundenlang gestanden hatte, um all die Kostbarkeiten zu bewundern, die Mr. Boyle dort ausstellte. Mr. Boyle war ein kleiner Mann, der bereits damals so ausgesehen hatte, als wäre seine Rente überfällig, was perfekt zum Inventar seines Geschäfts gepasst hatte. Irgendwie war er ihr immer so erschienen, als wäre er aus der Zeit gefallen und direkt in seinem Laden gelandet. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie sich wieder einmal die Nase an seinem Schaufenster platt gedrückt hatte und er zu ihr herausgekommen war.
»Junge Lady«, hatte er zu ihr mit einem Augenzwinkern gesagt. »Wenn dich meine kleinen Schätze so interessieren, dann komm doch einfach herein und sieh sie dir genauer an. Vielleicht kann ich dir ja die eine oder andere Geschichte dazu erzählen.« Sie hatte ihn beim Wort genommen, war hineingegangen und hatte sich von ihm stundenlang Geschichten über sein Inventar angehört. Von dem Tag an war sie immer, wenn sie Zeit hatte, zu ihm gegangen, um zu hören, welche neuen Schätze er ausgegraben hatte. Im Grunde war er es auch gewesen, der sie zu ihrem Entschluss gebracht hatte, Kultur, Kulturerbe und Geschichte zu studieren.
Auch jetzt konnte sie nicht anders, als vor dem kleinen Schaufenster halt zu machen und sich die Dinge, die dort standen, anzusehen. Im Zentrum des Schaufensters befand sich ein wunderschönes, uraltes Puppenhaus, das der alte Herr liebevoll weihnachtlich dekoriert hatte.
Das Hausdach war mit leuchtenden, dem Maßstab entsprechenden Girlanden versehen, genauso wie das Geländer des Treppenhauses. Über dem Kamin hing ein Tannenkranz, und auch die Fenster waren mit Girlanden und Strohsternen verziert. Doch der eigentliche Blickfang war der geschmückte Tannenbaum, der im Salon des Hauses stand. Susan war nicht fähig, ihren Blick abzuwenden.
Es war, als zöge die Szenerie sie magisch in ihren Bann und somit in eine andere Zeit. Und dann entdeckte sie ihn. Vor der Tür des Hauses stand ein in etwa handgroßer Dudelsackspieler aus Holz. Er war so detailgetreu gearbeitet, dass sie fast erwartete, er würde sich jeden Moment bewegen, um »Scotland the Brave« oder »Highlands Cathedral« zu spielen.
Neugierig geworden und in der Erwartung Mr Boyle würde ihr wieder einmal eine seiner Geschichten über ihn erzählen, trat sie ein.
Die alte, rostige Glocke über der Tür kündigte ihr Erscheinen an. Susan lief in den hinteren Teil des Ladens, in dem sich die Theke befand, hinter der Mr. Boyle immer auf seine Kunden wartete, doch hinter ihr stand nicht ihr großväterlicher Freund aus Kindertagen, sondern eine Frau, die, wenn sie schätzen müsste, ungefähr sein Alter hatte.
»Hallo«, begrüßte die alte Lady hinter dem Tresen sie. »Was kann ich für Sie tun?« Susan benötigte einen Moment, um sich zu fangen, bevor sie antwortete.
»Kann ich Mr Boyle sprechen. Ich bin Susan.« Die alte Dame betrachtete sie eingehend.
»Ah, dann sind Sie das. Lennox hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Sie sind die junge Lady, die ihn bereits in ihrer Kindheit stundenlang über all die Dinge, die hier ausgestellt sind, ausgefragt hat. Aber ich muss sie leider enttäuschen. Lennox ist in Edinburgh. Er hat dort den Nachlass eines älteren Herrn aufgekauft und wird erst in ein paar Tagen wieder zurück sein.«
»Das ist schade, ich dachte … Dann muss ich wohl nach Weihnachten wiederkommen.«
»Wenn Sie etwas wissen wollen, ich kann Ihnen auch helfen. Ich kenne jeden Gegenstand hier mindestens genauso gut wie Lennox. Zeigen Sie mir ruhig, was Ihr Interesse geweckt hat und ich gebe mir Mühe, ihre Fragen in Bezug darauf zu beantworten.« Susan nickte.
»Also schön, das Puppenhaus im Schaufenster …«
»… stammt aus der Zeit von Victoria I. Das Haus, die Möbel und das gesamte weitere Inventar sind noch im Original erhalten. Die Deko natürlich nicht. Damals gab es ja noch keine LED-Lichter«, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern. »Aber Kerzen in dieser Größe sind zu gefährlich. Kaum zündet man sie an, sind sie auch schon heruntergebrannt und würden das ganze Haus in Brand setzen. Der Fund war ein wahrer Glücksfall. Der ursprüngliche englische Besitzer hatte es auf dem Dachboden. Lennox musste viel Arbeit hineinstecken, doch ich denke, es hat sich gelohnt.«
»Definitiv. Es ist wunderschön. Leider habe ich für so etwas keinen Platz.«
»Noch nicht«, bemerkte die Alte geheimnisvoll lächelnd. Susan sah sie irritiert an. »Kindchen, was nicht ist, kann schneller werden, als man denkt«, fügte diese noch hinzu.
»Außerdem kann ich mir so etwas gar nicht leisten. Jedenfalls nicht, solange ich mit meiner Doktorarbeit noch nicht fertig bin.«
»Aye, Lennox hat mir so etwas erzählt. Kultur, Kulturerbe und Geschichte waren es doch, wenn mich nicht alles täuscht.«
Susan nickte.
»Dann komm mal mit. Ich glaube, ich habe da etwas für dich, was dein Budget nicht sprengt und in der kleinsten Ecke Platz findet. Man nennt mich übrigens Carlin.«
Susan folgte der Alten, bis sie schließlich das Schaufenster erreicht hatten. Dort angekommen, hielt Carlin inne, griff mit ihrer faltigen Hand nach dem Holzdudelsackspieler und hielt ihn ihr unter die Nase.
»Was sagst du dazu? Ist er nicht wundervoll gearbeitet? Beinahe lebensecht. Er ist noch viel älter als das Puppenhaus. Leider ist uns der Künstler, der ihn erschaffen hat, nicht bekannt. Aber ich denke, der würde hervorragend in ein noch so kleines Apartment passen.« Mit diesen Worten drückte sie Susan das kleine Holzmännchen in die Hand.
Susan war völlig überrumpelt und wusste erst gar nicht, wie sie reagieren sollte, dann aber betrachtete sie ihn genauer. Es war tatsächlich eine grandiose Arbeit. Von seinen Gesichtszügen bis hin zu den winzigen Details seiner Kleidung war alles exakt nachgebildet. Der Chanter seines Dudelsacks hatte sogar die kleinen Flötenlöcher. Noch dazu war seine Bemalung äußerst gut erhalten. Wenn er tatsächlich älter als das Puppenhaus war, dann war sein Zustand mehr als hervorragend. Susan drehte ihn verzückt in ihrer Hand. Aye, er wäre genau das Richtige … Wenn sie doch nur ein wenig mehr Geld zur Verfügung hätte …
»Selbst den kann ich mir nicht leisten«, gab sie bedauernd zu. »Das, was ich momentan verdiene, reicht gerade für die Miete und die anderen Kosten. Ich …«
»Würde ich ihn dir zeigen, wenn ich der Meinung wäre, dass du ihn dir nicht leisten könntest? Ich habe dir doch noch gar keinen Preis genannt.« Das stimmte. Dennoch war sich Susan sicher, dass sie, selbst wenn er ein wahres Schnäppchen war, nicht zahlen konnte.
»Weißt du, es gibt manchmal Dinge in diesem Laden, die suchen sich ihren neuen Besitzer selbst aus«, hob Carlin erneut an. Eines musste man ihr lassen, sie war hartnäckig und eine viel bessere Verkäuferin als Mr Boyle. Vielleicht hatte der alte Mann sie deshalb zu sich in den Laden geholt.
»Und dieser hier hat sich für dich entschieden«, fuhr die Alte unbeirrt fort. »Wie könnte ich dann einen Preis machen, der seinen Willen untergräbt. Ein Pfund und er gehört dir.« Susan starrte die Alte entgeistert an.