2. Blick ins Buch

Kapitel 4

James beugte sich hinunter zu seiner Tasche, doch noch bevor er hineingreifen konnte, hörte er plötzlich ein leises Schluchzen. Irritiert sah er sich um, aber die Kapelle war noch immer menschenleer, wenn man von ihm einmal absah. Wahrscheinlich hatte er es sich nur eingebildet. Erneut bückte er sich und zog eine Flasche Eisspray aus der Tasche, dann machte er sich an die Arbeit. Es gab natürlich inzwischen auch Chemikalien, um Kaugummis rückstandslos von Wänden zu entfernen, aber direkt die Chemiekeule hervorzuholen, war für ihn keine Option, immerhin handelte es sich ja um ein wertvolles Wandgemälde. Zudem war das Risiko, das Gemälde aufgrund der Reinigungsarbeiten mit chemischen Stoffen noch mehr zu beschädigen, viel zu groß, deshalb entschied er sich erst einmal für die althergebrachte Methode.

Er hatte bereits die Hälfte der Kaugummis entfernt, als er erneut ein leises Schluchzen vernahm. Instinktiv hielt er inne und drehte sich um. Doch auch diesmal war niemand zu sehen, von dem es hätte stammen können. Die Kapelle war nach wie vor noch immer menschenleer. James bekam eine Gänsehaut. So langsam wurde ihm das Ganze unheimlich.

Was ging hier vor sich?

Erklären ließ es sich jedenfalls nicht. Aber es half ja nichts, sich unnötig darüber Gedanken zu machen. Er konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen, denn wenn er eines war, dann zuverlässig. Dennoch, das mulmige Gefühl in seiner Magengegend verstärkte sich zunehmend. Einen Augenblick verharrte er auch weiterhin und starrte dabei auf das leere Schiff der Kapelle. Schließlich aber zuckte er mit den Schultern, wandte sich abermals seiner Arbeit zu und fuhr damit fort, die Kaugummis von der Wand zu lösen.

»Jamie, nein …« Beim Klang der weiblichen, weichen Stimme, die kaum hörbar schluchzend den Kosenamen verwendete, den normalerweise nur seine Schwester seit ihrer gemeinsamen Kindheit benutzte, fiel im vor Schreck der kleine Spatel, mit dem er sich gerade am letzten Kaugummi zu schaffen gemacht hatte, aus der Hand und landete mit einem Klirren auf dem Boden. James war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Für einen Moment erstarrte er. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, gefolgt von einer Gänsehaut,die sich über seinen gesamten Körper zog.

War das seine Schwester? War sie ihm gefolgt? Aber wieso weinte sie? War etwas geschehen?

»Jamie, … nein, das kann nicht? Das durften sie nicht … Wie konnten sie nur?« Beim erneuten Klang der Stimme kehrte endlich wieder das Leben in seine regungslosen Glieder zurück.

»Wieso nur …?« James drehte sich ruckartig dem Inneren der Kapelle zu und war abermals nicht fähig, sich zu bewegen. Vor dem Altar kniete eine Frau, nicht seine Schwester, sondern eine ihm fremde. Obwohl er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, da sie eine Haube trug und den Kopf gesenkt hielt, so dass ein dunkler Schatten auf ihre Züge fiel, war er sich vollkommen sicher, dass sie in etwa Bess Alter haben musste. Ihr Körperbau war nicht der einer alten Frau und auch ihre Stimme hatte definitiv nicht den Klang fortgeschrittenen Alters, aber auf eine merkwürdige Art klangen ihre Worte dennoch alt. Woran es lag, konnte er sich nicht erklären. Doch, dass es so war, war befremdlich.

Wie war sie unbemerkt hereingekommen?, ging es ihm durch den Kopf. Doch nicht nur das war seltsam. Es war ja schon äußerst bizarr, dass sie hier im Hauptschiff kniete, weinte und ihn anscheinend überhaupt nicht wahrnahm, doch dazu kam noch ihr eigenartiges Outfit. Wenn er es recht einschätzte, trug sie die vollständige Gewandung einer Hofdame aus der Zeit Maria Stuarts. Die Röcke ihres Kleides bauschten sich dermaßen um sie herum auf, dass ihre Füße vollständig bedeckt waren. Es sah fast so aus, als wäre sie in eine dunkelgrüne Wolke gehüllt. Die französische Haube mit dem ebenfalls dunkelgrünen Haarnetz, die sie auf ihrem Kopf trug, ließ die Farbe ihres Haares nur durch ein paar Strähnen, die sich daraus hervorgestohlen hatten, erkennen. Es war ein sattes Kupferrot, das hervorragend zu dem Grün ihrer Robe passte. Genauso hatte er sich die Ladys der damaligen Zeit immer vorgestellt.

Ob sie zu den Darstellern gehörte, die hier für die Touristen das Leben bei Hofe lebendig werden ließen?

Seine an sich selbst gerichtete Frage war völlig unnötig.

Du Idiot, schalt er sich innerlich. Was sollte sie sonst sein? Etwa eine Frau aus dem Ort, die versehentlich ihr Halloween Outfit schon einen Tag früher trug? Doch egal, wer auch immer sie war und warum sie das Outfit anhatte, es war offensichtlich, dass sie etwas, das so schwerwiegend war, dass sie spätabends in die Kapelle gekommen war, um zu beten, bedrückte. Sollte er zu ihr gehen, um sie zu fragen, ob er ihr auf irgendeine Weise helfen könnte? Vielleicht sollte er das wirklich.

Doch etwas hielt ihn davon ab, auf sie zuzugehen.

Sie war mit Sicherheit gekommen, um alleine zu sein, und wollte in ihrer Trauer, denn dass sie um etwas trauerte, war unverkennbar, garantiert nicht von einem ihr völlig Fremden vollgequatscht werden.

»Jamie, warum? Warum haben sie dir das angetan? Warum uns? Warum mir?«, wieder schluchzte sie leise. Sie schien völlig entrückt, so als würde sie nichts um sich herum wahrnehmen, selbst ihn nicht, der in ihrer unmittelbaren Nähe stand. Allem Anschein nach hatte sie ihn noch immer nicht bemerkt. James war hin und her gerissen.

Was sollte er tun?

Das Bild, was sie ihm bot, hatte etwas Sakrales an sich, was nicht allein an der Umgebung lag. Um es nicht zu zerstören, blieb er wie angewurzelt stehen und atmete, um sie nicht zu stören, unbewusst so leise, dass er es selbst kaum hören konnte. Plötzlich jedoch änderte sich etwas. Die junge Frau hob ihren Kopf, richtete ihren Blick auf die Wand vor sich, genau auf ihn und wischte sich dabei vehement ihre Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte ein Antlitz, das, wenn es nicht real vor ihm existieren würde, genauso gut seinen Träumen entsprungen sein konnte. Ihr Gesicht war so ebenmäßig wie das einer Puppe. Ihre Lippen so rot und einladend, dass er wie gebannt auf sie starrte. Doch das Faszinierendste an ihr waren ihre dunkelgrünen Augen, die fast die Farbe ihres Kleides widerspiegelten und in denen nun keine Trauer mehr lag, sondern nur noch maßlose Wut. James befürchtete schon, dass sie ihn nun anschreien und wütend aus der Kapelle herausbefördern würde, weil er sich erdreistet hatte, sie in ihrer Trauer zu beobachten, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen sprang sie auf, hob eine Faust gen Himmel und schrie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, so als wäre er nicht da:

»Diesmal habt Ihr Euch verrechnet. Ich werde mich nicht mehr als Unterpfand Eurer Machtgier missbrauchen lassen. Diesmal nicht!« Dann stürmte sie, als wären sämtliche Dämonen der Hölle hinter ihr her, aus der Kapelle.

James war nun vollends verwirrt.

Wohin wollte sie so eilig und wer missbrauchte sie? Verdammt!

Es dauerte einen Moment, bis er wieder fähig war, zu reagieren. Schließlich gab er sich einen Ruck und rannte hinter ihr her.

»Warten Sie?«, rief er ihr nach. »Wohin wollen Sie? Ich kann Ihnen vielleicht helfen.« Doch die schöne Unbekannte raffte ihre Röcke und rannte einfach weiter, so als wäre er es, vor dem sie floh. James allerdings wollte nicht so leicht aufgeben. Er folgte ihr durch den schmalen Durchgang zwischen großer Halle und Königspalast in den inneren Hof. Zu seinem Schrecken sah er, wie sie geradewegs den Weg zur Burgmauer einschlug.

Wollte sie etwa …? Nein, das durfte sie nicht. Er musste versuchen, sie aufzuhalten.

James hetzte weiter hinter ihr her. Eins musste er ihr lassen, sie war weit schneller, als er sich erhofft hatte, zumal ihre Gewandung sie beim Rennen zweifellos behinderte. Und was er schon vermutet, aber sich nie selbst eingestanden hatte, seine Kondition war lange nicht mehr so wie noch vor ein paar Jahren. Er würde definitiv nicht drumherum kommen, daran zu arbeiten, wenn er wieder zu Hause war. Jetzt allerdings durfte er auf keinen Fall schlappmachen. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, dann hing höchstwahrscheinlich ihr Leben von ihm ab und wenn es ihr gelang, ihren Plan in die Tat umzusetzen, dann würde er sich das niemals verzeihen. So viel war sicher.

James beobachtete nun, wie sie sich an der kleinen Mauer hochzog.

Verdammt er musste sich beeilen!

Doch das war gar nicht so einfach, denn inzwischen war er völlig außer Atem und bekam Seitenstiche. Aufgeben wollte er aber auf keinen Fall. Als er schließlich ebenfalls an der Mauer ankam, breitete sie bereits die Arme aus.

»Nein, nicht!«, brachte er völlig außer Atem mühsam hervor. »Sie dürfen das nicht«, versuchte er verzweifelt, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gleichzeitig hörte er, wie sie leise »Edward James Graham MacAlister ich folge dir dorthin, wo du jetzt bist. Warte auf mich, denn bald werden wir auf ewig vereint sein« vor sich hinmurmelte.

Er hatte sich nicht geirrt. Sie wollte wirklich …

Während ihm die Gedanken noch durch den Kopf schossen und er dabei seine Hand hob, um sie an ihren Röcken festzuhalten und zurückzuziehen, ließ sie sich nach vorne fallen. James Finger griffen ins Leere und er konnte nur noch dabei zusehen, wie sie, eingehüllt in eine Wolke dunkelgrünen Stoffs in die Tiefe fiel und mit dem dunklen Geäst der Bäume verschmolz.

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