1. Blick ins Buch
Prolog
Nebelschwaden lagen wie ein Schleier des Todes über den Feldern und Wäldern, die Stirling umgaben. Einzig und allein die Burg, die auf einem Hügel oberhalb der Stadt thronte, stach daraus hervor, als wollte sie selbst dem Wetter trotzen. Es herrschte eine Grabesstille, die noch unheimlicher war als der Anblick, den das Wetter bot. Plötzlich jedoch durchbrach das Geräusch eiliger Schritte diese Stille.
Kendra rannte durch den Durchgang zwischen der großen Halle und dem Königspalast in den oberen Innenhof der Burg. Tränen, die ihren Blick dermaßen trübten, dass sie alles um sich herum nur noch verschwommen wahrnahm, liefen über ihre Wangen. Er war tot. Ihr für immer entrissen. Der Bote mit der Nachricht war kurz nach der Abenddämmerung eingetroffen. Sie hatten ihn im Morgengrauen hingerichtet. Wegen Hochverrats, obwohl er mit den Aufständischen nichts zu schaffen hatte. Sein einziges Vergehen war seine Liebe zu ihr gewesen, kein Hochverrat an der Krone, wie sie behaupteten. Aber in dem Aufstand hatte genau die willkommene Gelegenheit für ihren Vater gelegen, um ihn sich endlich vom Hals zu schaffen. Ihre Liebe war dem Alten von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen und jetzt hatte er endlich bekommen, was er wollte.
Sie hatte Stunden in der Kapelle verbracht, um für das Seelenheil ihres Geliebten zu beten und sich darüber im Klaren zu werden, welchen Weg sie von nun an beschreiten sollte. Es gab nur einen. Kendras Tränen drohten sie zu ersticken, denn der Sinn ihres Lebens war ihr entrissen worden. Dieser eine Morgen hatte ihr alles, was es lebenswert gemacht hatte, genommen. Nein, nicht der Morgen, sondern der Henkersknecht, der im Auftrag ihrer Majestät beeinflusst durch ihren Vater, den Befehl ausgeführt hatte. Wie sehr sie ihn hasste! Nicht den armen Mann, der sich zum Werkzeug eines machthungrigen Despoten hatte degradieren lassen, sondern ihren Vater, der alles und jeden dazu benutzte, seine Macht im Schatten der Krone noch zu vergrößern. Aye, sein Machtstreben hatte ihn so weit gebracht. Und nun hatte er endlich freie Bahn, sie an den Meistbietenden wie eine Zuchtstute zu verschachern. Der Pferdemarkt war erneut eröffnet, doch sie war nicht mehr die willige Stute, die sich von dem ihr zugeteilten Hengst bereitwillig decken ließ. Diesmal war sie nicht dazu bereit.
Mit ihren knapp 20 Jahren war sie inzwischen schon zweimal verwitwet. Ihr erster Mann, ein französischer Peer, der am königlichen Hof in Paris ein gern gesehener Gast gewesen war, war so alt wie ihr Großvater gewesen. Doch aufgrund seiner Stellung bei Hofe hatte sich ihr Vater von dem Arrangement Einfluss auf Franz II. von Frankreich und dessen Gattin Maria Stuart versprochen und sie deshalb mit gerade einmal 14 Jahren buchstäblich an ihn verkauft. Zuneigung oder gar Liebe hatten dabei keinerlei Rolle gespielt.
Doch sein Plan war nicht aufgegangen. Ihr Ehemann war noch vor dem König, der nur wenige Tage später, kaum den Kinderschuhen entsprungen, verstorben war, den Blattern erlegen. Wie durch ein Wunder war sie verschont geblieben, obwohl man von ihr verlangt hatte, am Bett ihres erkrankten Gatten auszuharren. Mit noch nicht einmal 16 Jahren war sie dann schließlich zur Witwe geworden. Da trotz seiner zahllosen Versuche ihre Ehe mit dem Greis kinderlos geblieben war, hatte sie nur einen kleinen Teil seines Vermögens geerbt. Sein Titel und der Großteil seiner Besitzungen waren an seinen ältesten Sohn aus erster Ehe gegangen, der mit der kindlichen Frau seines Vaters nichts zu schaffen haben wollte. Man hatte sie direkt nach der Beisetzung ihres Gatten, die vor dem Tod des Königs stattgefunden hatte, wie eine gemeine Konkubine aus dem Palais gejagt und nach Schottland zurückgeschickt. Ihr wurde jetzt noch schlecht, wenn sie an den Alten dachte, der keinerlei Rücksicht auf ihr Alter genommen hatte.
Allerdings war mit dessen Ableben ihr Martyrium keinesfalls beendet gewesen. Kaum in Schottland angekommen, hatte auch schon der nächste Kandidat ihres Vaters auf sie gewartet. Diesmal ein entfernter Vetter der Königin. Keiner, der viel Einfluss besessen hatte, aber immerhin einer, dessen Nachkommen Anspruch auf den Thron erheben konnten. Zwar nicht in direkter Linie, doch im Laufe der Geschichte waren schon die absurdesten Dinge geschehen. Man konnte schließlich nie wissen, zu wessen Gunsten sich das Schicksalsrad einmal drehen würde. Weshalb ihr Vater sie in diese Ehe gedrängt und worauf er gehofft hatte, war demnach nur allzu offensichtlich gewesen. Doch auch dieses Mal hatte sich sein Hoffen als vergeblich herausgestellt.
Ihr neuer Gatte war, obwohl um einiges jünger als ihr Erster, auch nicht angenehmer als der alte Peer gewesen. Er hatte sich nicht für seine junge Gattin interessiert, die ihm zwar eine stattliche Mitgift eingebracht hatte, augenscheinlich aber nicht seine Wahl gewesen war, sondern sich lieber den Luxus einiger Mätressen gegönnt. Ihr war es nur recht gewesen, denn auch sie hatte keinerlei Zuneigung für ihn empfunden. Dass er allerdings in den allseitsbekannten Bordellen ebenfalls ein gern gesehener Gast gewesen war, der sich dort die Zeit mit Huren und Glücksspiel vertrieben und damit bei allen erdenklichen Gelegenheiten geprahlt hatte, war nicht nur ihr ein Dorn im Auge gewesen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er nicht nur einmal völlig betrunken zu ihr gekommen war und sie im Rausch dermaßen gezüchtigt hatte, dass sie danach mehrere Tage das Bett hatte hüten müssen. Doch selbst da hatte ihr Vater ihrem Flehen, die Ehe, die ja niemals vollzogen worden war, annullieren zu lassen, nicht nachgegeben, sondern ihr die Schuld daran gegeben.
Aye, es war ein Leichtes für ihn gewesen, ihr vorzuwerfen, nicht willig genug zu sein und auf diese Weise ihren Mann in die Arme und Betten anderer Frauen zu treiben. Vielleicht hatte er damit sogar recht gehabt, denn im Laufe der Zeit hatte der Stuart sie geradezu angewidert. Allerdings hatte ihr Martyrium nach diesen Eskapaden nicht mehr lange gedauert. Kurz darauf war er bei einem Tumult in einer der Spelunken, in denen er sich herumgetrieben hatte, ums Leben gekommen. Ob sie diesen Umstand einer göttlichen Fügung oder ihrem Vater zu verdanken gehabt hatte, wusste sie nicht und es war ihr bis heute auch egal. Sie war auf diese Weise mit noch nicht einmal 18 Jahren erneut zur Witwe geworden, der man diesmal jedoch, sehr zum Leidwesen ihres Vaters, ein Trauerjahr bewilligt hatte.
Ungeachtet der Tatsache, dass der Stuart nicht gerade ein vorbildlicher Gatte gewesen war, hatte er dennoch wenigstens dafür gesorgt, dass sie nach seinem Ableben nicht völlig mittellos dagestanden hatte. Aber das war auch alles gewesen. Als kinderlose zweifache Witwe hatte man ihr die Schuld daran gegeben. Nicht nur an der Kinderlosigkeit, sondern auch am Tod ihres zweiten Mannes, der angeblich aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit in die Spelunken geflüchtet war, um sich dort von seinem schweren Schicksal abzulenken. Erneut hatte man sie wie eine Aussätzige behandelt und mit Schimpf und Schande auf ein abgelegenes kleines Anwesen am Loch Eireann verbannt, damit sie während ihres Trauerjahres die Muße fand, ihr Verhalten zu überdenken. Doch das Schicksalsrad hatte sich diesmal dazu entschlossen, sich in ihre Richtung zu drehen. Er war in ihr Leben getreten und …