1. Blick ins Buch

Auszug aus dem Prolog

Seit über zwei Wochen tobten nun schon die alljährlichen Herbststürme. Der Sturm, der momentan wütete, peitschte die Wellen die steile Klippe hinauf bis fast an die untere Kante der Ringmauer. Der Wind heulte gespenstisch durch die Schießscharten und der Regen prasselte, als hätte jemand die Tore des Himmels geöffnet. Selbst im Inneren der Burg waren die Auswirkungen des Wetters deutlich zu spüren. Es zog erbärmlich und hin und wieder mussten sogar die Feuer in den Kaminen vor dieser Urgewalt kapitulieren. Das Schlimmste daran war jedoch, dass das Treiben des Sturms gerade heute seinen Höhepunkt erreichte.

Obwohl es ihm im hohem Maß zuwider war, hatte er dennoch einige seiner Männer hinausjagen müssen, um die alte Noirin herbeizuschaffen. Ein Kräuterweib, das sich auch als Hebamme verdingte. Und genau diese brauchte er momentan so dringend wie die Luft zum Atmen.
Alyth lag in den Wehen mit ihrem ersten Kind. Wie viele schier endlos lange Jahre hatten sie gebangt und gehofft, dass Gott ihnen endlich einen Stammhalter schenken möge, indes, alles Hoffen war vergebens. Doch gerade, als sie schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatten, war seine Frau schließlich doch noch guter Hoffnung gewesen. Aber die Geburt verlief nicht, wie sie es sollte und nur Eine konnte jetzt noch helfen: die alte Noirin.
Die schier endlose Warterei auf die Rückkehr seiner Männer hatte ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Doch nun, wo sie endlich zurück waren und Noirin unversehens zu seiner Frau geeilt war, ging es ihm auch nicht viel besser. Seit einer gefühlten Ewigkeit war die Alte nun schon in Alyths Kammer. Die erhoffte Nachricht blieb allerdings auch weiterhin aus.

Malcolm Sinclair zog sein Plaid enger um seinen Körper und seufzte leise. Dann hielt er kurz inne, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Wie oft er mittlerweile die gesamte Ringmauer der Burg abgeschritten hatte, konnte er nicht genau sagen, aber dass er, wenn es so weiterging, einen Trampelpfad darauf ziehen würde, war gewiss. Doch hineinzugehen war auch keine wirkliche Option. Selbst hier draußen war die Warterei schon eine Qual, aber im Inneren …
»Mylord, die alte Noirin lässt Euch rufen.« Malcolm zuckte unwillkürlich zusammen und drehte sich instinktiv in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er war dermaßen in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er noch nicht einmal bemerkt hatte, dass John, sein Kämmerer, zu ihm auf die Ringmauer gekommen war.
»Ist etwas mit meiner Frau oder dem Kind?« Der ängstliche Unterton in seiner Stimme verriet, wie es gegenwärtig wirklich in ihm aussah, aber das war ihm egal. Sollten doch alle sehen, wie sehr er sich um die beiden sorgte.
Auf dem Gesicht seines Gegenübers erschien ein Grinsen.
»Aye, sie sind wohl auf. Ihr seid Vater eines gesunden Jungen!«

Ohne John eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmte Malcolm los. Doch vor der Tür zu Alyths Gemach hielt er plötzlich inne. Müsste nicht das Geschrei des Neugeborenen zu hören sein? Oder wenigstens ein anderes Geräusch? Doch in der Kammer war es totenstill. Malcolm hielt erschrocken den Atem an. Was, wenn seine Frau oder das Kind in der Zwischenzeit … In demselben Moment öffnete sich die Tür leise von innen und Noirins Gesicht tauchte vor ihm auf.
»Mylord! Euch ist ein wahrer Segen zuteilgeworden, mit dem niemand mehr gerechnet hat. Aber kommt erst einmal herein und seht selbst.« Malcolms Knie zitterten, während er der Alten in die Kammer folgte. Selbst in den großen Schlachten, in denen er gekämpft hatte, war er niemals so aufgewühlt gewesen wie in diesem Augenblick. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Schlachten gab es unendlich viele, wenn man es darauf anlegte, aber wie oft wurde man im Leben schon Vater? Und das auch noch zum ersten Mal?

Noirin führte ihn direkt zu dem großen, prunkvollen Himmelbett, das fast den gesamten Raum einnahm und das er eigens für Alyth von einem ihrer begabtesten Tischler hatte anfertigen lassen. Dort lagen sie. Malcolm betrachtete liebevoll seine schlafende Frau und den gerade geborenen Säugling in ihren Armen. Er war das langersehnte Wunder und genauso würde er ihn auch stets sehen. Patrick John Sinclair! Sein Sohn! Patrick nach dem heiligen Patrick, zu dem seine Frau so oft gebetet hatte und John, wie der Lieblingsjünger des Herrn. Vielleicht würde er auf diese Weise genau wie dieser seine Gunst gewinnen.
»Mylord, darf ich sprechen?« Noirins Worte rissen ihn abrupt aus seinen Gedanken.
»Was ist? Stimmt etwas nicht mit den beiden?« Noirin schüttelte ihren Kopf.
»Nein, das ist es nicht. Aber … Mylord, ich weiß, dass Ihr an die höhere Macht glaubt, die das Kreuz als ihr Zeichen beansprucht, doch es gibt auch noch andere Mächte …«, antwortete sie ihm leise.
»Eigentlich sollte ich dich für deine Worte schelten. Du weißt, wie ich zu all dem Humbug stehe, der durch Unwissenheit und Aberglaube entstanden ist.« Noirin nickte.
»Aye! Doch das, was ich Euch zu sagen habe, hat nichts mit Aberglauben und Humbug zu schaffen. Ihr wisst, was das zweite Gesicht ist?« Jetzt war es Malcolm, der nickte.
»Mylord, die Nacht, in der Euer Sohn das Licht der Welt erblickt hat, ist eine ganz Besondere. Sie erlaubt es den Verstorbenen zurück auf die Welt zu gelangen und mit ihren Nachkommen in Kontakt zu treten. Ihr wisst auch, dass eine meiner Vorfahrinnen die Seherin Eures Vorfahren war. Sie hat mir aufgetragen, Euch eine Botschaft zu übermitteln.«
»Noirin, ich bitte dich! Deine Vorfahrin?« Noirin nickte.
»Aye!« Malcolm konnte das Lachen, das in seiner Kehle aufstieg, kaum unterdrücken. Obwohl die meisten seines Clans mittlerweile zum Christentum bekehrt worden waren, hielten sie dessen ungeachtet an ihren alten Sitten und Gebräuchen, sowie an einigen obskuren Glaubensarten fest. Solange sie aber dennoch jeden Sonntag den Gottesdienst besuchten, war es ihm einigermaßen gleichgültig. Es schadete ja niemandem. Und nicht nur das. Solange er seinen Leuten einige Freiheiten einräumte, dankten sie es ihm mit Pflichterfüllung und Treue.
»Welche Botschaft hat sie denn für mich?«, wollte er grinsend von ihr wissen. Die Alte sah ihm tief in die Augen, dann senkte sie ihre Stimme.
»Das Schicksal Eures Sohnes liegt im Meer. Doch nichts ist so, wie es scheinen mag. Einzig und allein der Blick hinter die Fassade wird Gewissheit bringen. Und nur dann, wenn er das nicht Sichtbare sieht, wird er sein Glück finde, denn ein Herz kann unendlich viel mehr sehen, als so manche Augen.«

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