2. Blick in Buch

Auszug aus Kapitel 10

Anni entfernte sich immer weiter von der Straße. Zunächst hatte sie einfach nur ein paar Schritte gehen wollen, aber irgendetwas trieb sie immer tiefer in den Wald hinein. Wie weit sie schon gelaufen war, wusste sie nicht und es war ihr auch egal. Das Bedürfnis, immer tiefer in den Wald hinein zu gehen, war einfach zu stark. Als der kaum noch erkennbare Pfad, dem sie gefolgt war, plötzlich eine Biegung machte und sich gabelte, blieb sie jedoch stehen. Der eine Weg führte noch tiefer in den Wald hinein, während der andere in Sichtweite vor einem riesigen schmiedeeisernen Tor endete. Neugierig geworden, ging sie darauf zu.

Das Tor war von Nahem noch imposanter, als es aus der Entfernung bereits gewirkt hatte. Sie war zwar keine Historikerin, aber durch Raelyns Arbeit hatte sie einiges bezüglich der schottischen Handwerkskunst aufge-schnappt. Wenn sie sich nicht vollkommen täuschte, dann war das Tor mit Sicherheit schon ein paar Hundert Jahre alt und das Werk eines wirklich guten Schmieds. Die Ornamente waren wunderschön gearbeitet und ergaben ein stilvolles Blütenmuster. Das Erstaunlichste daran war aber, dass in einem der Torflügel sich die Ornamente zu einem Wappen formten, in dessen Mitte eine Katze, das Symbol des MacPherson-Clans, saß. Darüber war der Wahlspruch in goldüberzogenen Lettern eingelassen:

Na bean don chat gun lamhainn, heute eher bekannt als touch not the cat but a glove, berühre nicht die Katze ohne Handschuh.

Warum wunderte sie das? Dies hier war MacPherson Gebiet. Wenn es hier ein Clanwappen gab, dann doch nur das des MacPherson-Clans. Nur hier in diesem abgelegenen, fast schon verschlafenen Wald hätte sie nie und nimmer mit einer derartigen Entdeckung gerechnet. Verzückt trat sie einige Schritte zurück, zog ihr Handy aus der Tasche und machte ein Foto von ihrer Entdeckung. Ob es hier noch mehr zu erkunden gab? Anni spürte, wie eine innere Unruhe sie erfasste. Dieses Gefühl war ihr nur allzu bekannt. Genauso fühlte sie sich immer, wenn sie ein altes Kellergewölbe betrat, um nach einer Urkunde oder anderen Papieren zu suchen. Wenn es sich allerdings meldete, dann war sie sich meist sicher, dass sie kurz davorstand, etwas wirklich Bemerkenswertes zu finden. Sollte sie diesem Gefühl nachgeben? Anni war hin- und hergerissen. Wenn sie das Tor öffnen würde, dann wäre das definitiv Hausfriedensbruch, was nicht von Vorteil in der Biografie einer Anwältin wäre. Doch wenn sie es nicht tat, würde sie es vermutlich später bereuen. Nichts war schlimmer als unbefriedigte Neugier.

Anni zögerte noch immer. Vielleicht sollte sie nach einer Klingel oder Glocke suchen, um ihren Besuch anzukündigen. Immerhin hatte sie ja eine gute Ausrede parat. Ihr Fastunfall bot sich ja förmlich an, ihn als Rechtfertigung zu benutzen. Aber so sehr sie auch nach einem Knopf oder etwas Ähnlichem suchte, es war nichts vorhanden, was auch nur annähernd danach aussah. Wenn es keine Glocke gab, dann konnte ihr auch niemand vorwerfen, das Anwesen unrechtmäßig betreten zu haben. Sie hatte ja versucht, sich vorher bemerkbar zu machen, aber …

Schließlich schob sie all ihre Vorsicht beiseite, ergriff einen der Torflügel und lehnte sich mit ihrem Gewicht dagegen. Mit einem lauten Quietschen gab er nach und öffnete sich so weit, dass ein Spalt entstand, durch den sie sich bequem zwängen konnte. Anni hielt den Atem an und lauschte, ob das unerwartet laute Geräusch jemanden anlocken würde, doch nichts geschah. Dennoch hielt sie noch einen Augenblick inne, bevor sie ausatmete, sich durch den Spalt schob und das Anwesen betrat. Anschließend folgte sie dem Pfad, der langsam etwas breiter wurde, durch den Wald, bis dieser sich etwas lichtete und letztendlich in einen barocken Garten wandelte.

Der Anblick war unglaublich. Vor ihren Augen erstreckte sich ein Labyrinth aus raffiniert arrangierten Hecken und Sträuchern, das im Sommer vermutlich geradezu dazu einlud, sich stundenlang in ihm zu verlieren. Doch das Faszinierendste war das riesige Herrenhaus, das sich wie ein verwunschenes Märchenschloss vor ihr auftürmte. Anni konnte es kaum fassen. Ihr Gefühl hatte sie wieder einmal nicht getäuscht. Ihre Entdeckung war mehr als außergewöhnlich. Verzückt blieb sie stehen und zog ihr Handy erneut aus der Tasche, um zu fotografieren. Doch dazu kam es nicht mehr. Anni wurde von hinten rüde gepackt und zur Seite gerissen, sodass sie unsanft im Schnee landete. Noch bevor sie überhaupt reagieren konnte, tauchte ein wütend dreinblickender Blondschopf vor ihren Augen auf, warf sich auf sie und drückte ihr ein Messer an die Kehle.

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